NOVINKI/Matthias Meindl/2010

(copy from www.novinki.de)

„Wir arbeiten ja mit Menschen. Das sind nicht Leinwände und Farben. Das ist unglaublich schwer.“

Interview mit Natal’ja Peršina-Jakimanskaja (Gljuklja) aus der Gruppe Factory of Found Clothes und der Gruppe Chto delat

 

15 Jahre feministische Themen mit der Gruppe Factory of Found Clothes und ein zunehmendes Engagement in der linksaktivistischen Künstlergruppe Chto delat. Umgeben von der von der Künstlerin umgenähten Kleidung, in einer schön gealterten Atelierwohnung im legendären Benua-Haus auf dem Kamennoostrovskij Prospekt in Petersburg, fand dieses Gespräch mit der Künstlerin Natal’ja Peršina-Jakimanskaja über Kunst und Politik statt.

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Three Mothers and one Choir. Mutter eins.

novinki: Natalja, Du gehörst gleichzeitig der Gruppe Factory of Found Clothes (F.N.O.) und der Gruppe Chto delat an. Erzähl doch bitte, inwiefern Du diese Projekte und Tätigkeiten im Moment trennst. Sind das für dich zwei verschiedene Aspekte deines Schaffens oder sind die Grenzen zwischen ihnen verwischt?

Gljuklja: Das sind verschiedene Formen des Schaffens, weil diese Gruppen verschiedene Aufgaben haben, obwohl es auch eine gemeinsame Grundlage gibt. Diese gemeinsame Grundlage ist die Anerkennung der gesellschaftlichen Rolle des Künstlers, in dem Sinne, dass wir die Macht nicht verherrlichen, sondern vielmehr an einem Problem arbeiten wollen. Wir wollen den Menschen irgendwie helfen, diese Realität zu überwinden. Und generell haben diese Gruppen verschiedene Methoden. In der Gruppe Chto delat steht zu einem großen Teil das rein Politische im Vordergrund. Der Schwerpunkt liegt im Aktionismus, in konkreten Handlungen. Und sogar die Filme, die Chto delat jetzt macht, sind sehr streng aufgebaut als Narrative über das, was, vom Standpunkt der Klassen aus betrachtet, passiert ist. Auch die Sprache ist entsprechend. Wie in einem Lehrbuch. Deswegen wird die Gruppe Chto delat in Kunstkreisen fortwährend kritisiert. Man stellt ihr die Frage „Und wo ist jetzt hier die Kunst?“ Im Hinblick auf unsere Gruppe F.N.O. aber stellt sich nie die Frage, ob das Kunst ist oder nicht, weil wir, obwohl wir uns sehr aktuellen Themen widmen, bis zu einem gewissen Grad einer Tradition der künstlerischen Sprache folgen. Das heißt, es gibt hier auch einen Unterschied, wie man an das Verständnis von Universellem und Identitätspolitik herangeht. Wir interessieren uns stärker für die sogenannten Frauen-Themen, den Feminismus und alles was mit diesem zusammenhängt. Ist doch dieser Begriff sehr weit und alles andere als eindeutig. Uns interessiert das ‚Schwache’ im Kontext der Dynamik der Macht, und das ‚Schwache’ bedeutet auch das Menschliche im Zusammenhang mit der Komplexität der inneren Welt. Deshalb haben wir solche Performances gemacht, in denen das Zerbrechliche und das Mächtige ihren Platz tauschen. Zum Beispiel die Matrosen, die Kleidchen vor sich her tragen, und damit demonstrieren, dass die Macht der patriarchalischen Männlichkeit eigentlich sehr zerbrechlich ist. Man kann die grundlegende Kritik am Feminismus von Seiten der linken Intellektuellen als Angst vor der Marginalisierung der Kultur im Ganzen im Verhältnis zur Macht sehen. Ich glaube, wenn man Projekte nicht unterstützt, die mit weiblicher Subjektivität verbunden sind, dann kann das zum Ruin der ganzen schönen linken Theorie führen. Dies scheint mir mit der Idee Adornos vergleichbar, dass, wenn wir der Kunst die Poesie rauben, uns das in den Faschismus führt.

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Three Mothers and one Choir. Chor.

n.: Ich finde die Entwicklung von F.N.O., die in den 1990er Jahren begann, sehr interessant. Auf eurer Webseite steht, dass euer Schaffen im Jahr 1995 beginnt. In anderen Interviews habt ihr gesagt, dass bei euch anfangs ein romantischer Zugang zur Kunst bestimmend war. Zur gleichen Zeit versuchten viele Moskauer Künstler, radikale Politik zu betreiben. Letztere sind mittlerweile doch sehr ruhig geworden, einige von Ihnen sind ‚verbürgerlicht’. Ich habe den Eindruck, dass bei euch hingegen der politische Aspekt eine Stärkung erfahren hat, die zudem einen sehr organischen Prozess darstellt. Wie schätzt Du selbst diese Entwicklung ein?

G.: Das ist wirklich so. Ich habe die Theorie, dass alle Menschen diese quasi gesetzmäßige Evolution durchlaufen. Erst erforschen sie sich selbst, danach gehen sie hinaus in die Gesellschaft und sind in der Lage, einem anderen zu helfen oder ihn zu kritisieren. Wir waren anfangs fokussiert auf persönliche Prozesse, auf die Überwindung innerer Ängste. Wir hatten unsere eigene Sprache, unsere eigenen Codes. Und dann, zusammen mit dem Erwachsenwerden vollzogen sich unsere Politisierung und unsere Sozialisation. Wir haben eingesehen, dass wir nicht nur auf uns selbst fokussiert sein können, dass wir aus uns heraus gehen und uns weiterentwickeln müssen. Das jedoch heißt nicht, dass man alles Innere wegstreichen könnte; aber auch das Innere bekommt einen größeren Umfang, wenn man es mit dem Äußeren vergleicht. Ich glaube, dass auch die Künstler, die in den 90iger Jahren ‚wüteten’ diesen Entwicklungsprozess von der Erkenntnis ihrer selbst zur Erkenntnis des Anderen genommen haben. Indes hängt dies freilich auch mit den Prozessen in Russland zusammen. Denn es ist unmöglich, Künstler zu sein und nicht die herrschende Ungerechtigkeit zu sehen. Du siehst, lehnst dich auf, und es stellt sich bei dir eine Art zivilgesellschaftliches Engagement ein. Selbst wenn du beispielsweise nicht weißt, dass eine Ausstellung mit schmutzigem Geld gesponsert wird, das mit Betrug, Korruption und mit Hilfe politischer Manipulationen erworben wurde, wird dich auf solch einer Ausstellung stets irgendwas ärgern. Die Organisatoren sind irgendwie komisch, und das Geld fließt irgendwie nicht dorthin, wo es sollte. Irgendwann merkst du, für wen du arbeitest.

n.: Ich verstehe, was Du meinst. Ich bin vor zwei Wochen in die Ausstellung Perpetual Battles in Moskau geraten, die von der Tochter des Oligarchen Oleg Bajbakov organisiert worden war. Sie fand in einem Gewerbegebiet statt, und dort wurde westliche kritische Kunst ausgestellt. In der Mitte eines Saals befand sich eine Arbeit von Thomas Hirschhorn – zwei Mannequins in langen Kleidern, auf denen eine Vielzahl von Photographien angebracht waren, die soziale Proteste, Aufstände und Kriegszerstörungen zeigten. Und alle Besucherinnen schritten in Haute Couture Champagner trinkend durch die Ausstellung.

Mir gefällt sehr euer Projekt der Utopian unemployment union. In diesem Projekt lernen arbeitslose Männer bei arbeitslosen Balletttänzerinnen der Vaganova Ballettakademie in Petersburg tanzen. Und dann andersherum, die Frauen lernen bei den Männern. Ich sehe dort viele Züge, die typisch sind für die Ästhetik von F.N.O., zum Beispiel der Aspekt der Therapie mit Hilfe des künstlerischen Selbstausdrucks des Menschen und mittels der Kommunikation. Es geht hier auch um eine Überwindung der Geschlechterrollen und eine Ästhetik des Mitleidens. Sag doch bitte, in welcher Phase sich das Projekt befindet? Geht es noch weiter?

G.: Ja, es geht noch weiter. Kürzlich war es in Brüssel. Das war sehr interessant. Hier auf dem Tisch liegt ein ganzer Ordner mit Briefen, die Leute geschickt haben: „Bewerbungsschreiben für einen Job“ bei unserem Projekt. Es gelang uns ein Kollektiv zu bilden, in dem wir uns tatsächlich gegenseitig fühlen konnten. Das alles ging im Gebäude des ehemaligen Palastes der Bergleute vonstatten, was dem ganzen Projekt noch eine zusätzliche Note gab.

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“Father Transformer and the Choir” (live performance, 2009, opening 55th Oberhausen Filmfestival).

n.: Und gestartet wurde das Projekt in Petersburg?

G.: Ja, und dann gab es eine kurze Variante in Paris.

n.: Und wie haben die Männer, die versuchten, die weiblichen Bewegungen nachzuahmen, ihr Erleben geschildert? Habt ihr danach mit ihnen gesprochen?

G.: Wir interviewen die Teilnehmer immer am Anfang, sprechen recht lange mit ihnen und klären ihre Probleme. Dann findet eine gemeinsame Diskussion statt, aber die Teilnehmer sind nicht immer bereit zu sprechen. Im Prinzip klappt das später besser, wenn eine bestimmte Zeit nach dem Projekt verstrichen ist. Im Großen und Ganzen war das Feedback aber positiv. Die Leute nehmen etwas mit, das ihnen dann später nutzt. Wir hoffen sehr darauf, einmal solch ein Projekt machen zu können, bei dem es möglich wäre, der Dynamik der Entwicklung zu folgen. Bisher ist uns das aber nicht gelungen, weil die institutionelle Unterstützung fehlt.

n.: Das hieße, ein Projekt zu organisieren als beständig wirkende Institution, etwas in der Art eures Kleidergeschäfts F.N.O. auf dem Ligovskij-Prospekt 53?

G.: Ja, zum Beispiel wäre es interessant ein Projekt zu machen und dann die Ergebnisse im Auge zu behalten.

n.: Mir schien es anfangs so, als ob die Balletttänzerinnen in diesem Projekt Innerlichkeit symbolisieren sollen, vielleicht sogar das Ideal der selbstgenügsamen Schönheit. Indes ist diese Schönheit auf grausamer Selbstdisziplin gegründet. Mir schien es sogar, dass die Balletttänzerinnen sich noch stärker befreiten, als sie die männlichen Bewegungen nachahmten.

G.: Ja, das war die Idee.

n.: Könnte man denn sagen, dass, ungeachtet ihrer historischen Herkunft aus der feudalistischen Gesellschaft, die Ballerina einen Ausdruck höchster Disziplin darstellt, so wie sie von der modernen Gesellschaft gefordert wird?

G.: Ja, eine Maschine, ein Roboter.

n.: Das ist ein sehr starkes Bild. Habt ihr denn auch mit den Balletttänzerinnen Interviews gemacht, in denen sie ihre alltäglichen Probleme beschrieben haben. Werdet ihr diese Interviews in den Filmen verwenden?

G.: Das würden wir gern. Zusammen mit einem holländischen Institut werden wir ein Projekt über Immigranten machen, und wir wollen in diesem Projekt die Arbeit mit den Balletttänzerinnen weiterführen, wobei diesmal noch mehr Balletttänzerinnen aus der Vaganova-Akademie mitmachen sollen. Und diese Interviews wollen wir ausstellen als ein Produkt des Projekts. Normalerweise stellen wir sie nicht aus, so eine Ausstellung haben wir noch nicht gemacht.

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Utopian Unemployment Union II (No 3, Brussels).

n.: Ich habe über den Namen dieses Projektes nachgedacht: Warum ist denn das eine „Gewerkschaft“? Gewerkschaften sind doch Organisationen für den ökonomischen und politischen Kampf, und ich hatte den Eindruck, dass sich dieses Projekt eher an Technologien orientiert, mit denen sich die fortgeschrittensten europäischen Länder, solche wie Holland oder vielleicht Deutschland, an ihre Arbeitslosen richten. Könnte man vielleicht auch sagen, dass diese Feminisierung der Männer deren Situation in den postindustriellen Gesellschaften widerspiegelt?

G.: Ja. Aber gleichzeitig ist es auch der Versuch, diese zu überwinden. Auch die Balletttänzerinnen sollen etwas lernen. Da soll eine Art Balance gefunden werden. Es wird der Versuch unternommen, „sich die ideale Gewerkschaft vorzustellen“. Bei uns in Russland gibt es da gar nichts. D.h. man schmeißt dich raus, „verpiss Dich“, so in etwa. Einem Arbeitslosen hilft niemand. Und warum sollte man sich keinen Ort vorstellen, den sie aufsuchen könnten, um dort mit Künstlern zu arbeiten? Bei uns gibt es viele Künstler, die sehr passiv sind, wenn es darum geht, bei sozialen Problemen zu helfen. Aber wenn man an die Sache richtig heranginge, könnte jeder Künstler sich verschiedenste Abenteuer und Technologien ausdenken, wie man Menschen, die ihre Arbeit verloren haben, neuen Mut geben könnte. Man kann sich so ein ‚Sozioartikum’ vorstellen, eine Gewerkschaft, an die man sich wenden kann, wenn man mit Künstlern arbeiten möchte. Hier werden sie selbst zu Künstlern und bringen sich in Performances ein. Es ist ein Weg zur Selbsterkenntnis, zur Selbstbildung und zur Selbstaufklärung. Wenn die Maschinerie dich ausspuckt und du ohne Arbeit dastehst, dann kannst du, anstatt den Mut zu verlieren, in eine Depression zu verfallen oder zu Mama zu gehen, die Situation einfach ausnützen, als eine große Chance, denn der Zustand des Aus-der-Maschinerie-Ausgeschlossenseins, der Zustand „dazwischen“ ist der Lieblingszustand aller Dichter. Er ist unglaublich reich an Möglichkeiten. Um es mit etwas Ironie zu verallgemeinern – unsere Botschaft ist in etwa: „Wenn man Euch von der Arbeitsstelle verjagt hat, dann geht nicht dorthin zurück. Kehrt irgendwo anders hin zurück!“ [Lacht]

n.: Alle werden Künstler! [Lacht]

G.: Ja, denn sowohl Lenin in seinen klaren Momenten als auch Joseph Beuys meinten, dass es in der idealen kommunistischen Gesellschaft keine Künstler geben werde, weil alle Künstler sein werden. Alle werden sich gegenseitig helfen. Etwas derartiges passiert freilich nicht, aber die Möglichkeit, so zu denken, auszuschließen, wäre das Gleiche wie sich das Lieben zu verbieten, nur weil man weiß, dass die Hitze der ersten Leidenschaft sowieso vergeht. Und es ist klar, dass ich nicht den Mainstream der zeitgenössischen Künstler im Sinn habe, die sich am Markt orientieren.

n.: Eine andere eurer Arbeiten, die mir sehr gefällt, ist Three Mothers and One Quire, ein Film, in dem drei Mütter über ihre Erfahrungen und Probleme in Mutterschaft, Liebes-, Arbeits- und Familienleben erzählen. Dabei spielt ein Problem eine besondere Rolle, das leider für Russland nur allzu aktuell ist: wie Frauen Kind und Arbeit miteinander vereinbaren können. Mich würden einige Details der Produktion des Films interessieren. Habt ihr Interviews mit den Müttern gemacht?

G.: Ja. Zu Beginn haben wir sie interviewt. Sie haben sich ausgesprochen. Anfangs dachten wir, dass wir sie filmen könnten, haben aber dann verstanden, dass das nicht klappt, dass man Schauspielerinnen nehmen muss.

n.: Ach, ich wusste nicht, dass das Schauspielerinnen sind…

G.: Ja, wir wollten speziell an dieser Nahtstelle zwischen Dokumentarischem und Künstlerischem arbeiten. Es ist einfach so, dass Frauen, die keine Schauspielerinnen sind, hier leider langatmig wirken und die Zuschauer nicht fesseln. Deswegen haben wir Interviews gemacht, sie überarbeitet, bestimmte Fakten dramatisiert, bis ins Absurde überspitzt, soweit verändert, bis sie künstlerisch ausdrucksvoll waren, wir haben ihnen eine gewisse Form verliehen und haben auch übertrieben. Dennoch ist im Prinzip alles dokumentarisch basiert. Für uns hielt die Arbeit einige Entdeckungen bereit. Zum Beispiel der Fall mit der Mutter, die ihrem Sohn Geld für gutes Benehmen bezahlt… so etwa: „Guter Junge, hier hast Du Geld.“ Wir konnten uns das zuvor gar nicht vorstellen, dass es im Leben so etwas gibt. Es gab während dieses Projektes auch Konflikte. Eine Mutter, die eine der Mutter-Protagonisten war (obwohl alle drei mehr oder weniger typische Gestalten, drei ausdrucksvolle Symptome, drei charakteristische Züge der Mutter darstellen) kam zusammen mit ihrer Tochter, und die Tochter sagte etwa bei der Hälfte ‚ihres’ Monologs: „Mama, das bist du!“ Das war furchtbar, weil wir ihre Sprache entkleidet hatten, die Tatsachen gleichsam von allen intellektuellen Euphemismen und sentimentalen Beschwichtigungen befreit hatten. Wir zeigten das Wesen, das, was sie eigentlich spricht. Und das Kind hat dies gesehen. Diese Mutter hat uns dann später in der Nacht angerufen und gesagt: „Wofür habt Ihr mich denn so heruntergemacht, Mädels!“ Und ich habe ihr geantwortet: „Aber es ist doch zu Deinem Besten! Natürlich haben wir in Vielem übertrieben. Das bist nicht Du, gleichzeitig bist Du es“.

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Laden für utopische Kleidung, Besucher, 2006.

n.: Für die Mutter war es also schrecklich?

G.: Es ist generell schrecklich, was mit ihr vorgeht, weil sie so lebt und denkt, das wäre normal. Und am Ende hat sie verdorbene Kinder.

n.: Auch für sie war es also eine Selbsterkenntnis.

G.: Ja. Wir arbeiten eben mit Menschen, nicht mit Leinwand und Farbe. Und das ist unglaublich schwierig. Mitten in der Performance im belgischen Projekt stehen da diese zwei Leute einfach auf und gehen. Eine andere Sache ist, dass nach deren Abgang die ganze Gruppe ansprang. Es gab dann einen ‚great spirit’. Diese Menschen waren bei uns offensichtlich nicht am richtigen Platz. Sie haben einfach verstanden, dass sie gehen müssen. Genauso wie wir überzeugt sind, dass Kunst nicht angenehm, ergänzend, schmückend, dekorativ sein soll. Und entsprechend ist die Methode unserer Arbeit: über die Widersprüche, über den Konflikt.

n.: Im Film Three Mothers and One Choir gibt es eine bemerkenswerte Spannung zwischen dokumentarischen und antirealistischen Elementen. Zu letzteren gehört der Chor, der Operngesang. Die individuellen Charakterzüge werden den Allgemeinplätzen in den Kommentaren des Chors gegenübergestellt. Es gibt hier einige Details, die sich vielleicht nur ein sehr talentierter Drehbuchschreiber ausdenken könnte. Etwa als die dritte Mutter erzählt, wie ihr Sohn sie in ungeschminktem Zustand fotografiert, mit dem Kommentar, die Fotos seien für die Titelseite des Journals „Wie schlecht es ist, ein Verlierer zu sein“ gedacht. Das ist wahrscheinlich aus dem Interview? Das habt ihr euch wohl kaum ausgedacht?

G.: Nein, natürlich nicht. Das gleiche ist der Fall bei der ersten Mutter. Im Internet gibt es einen Blog für Mütter. Und eine Mutter schreibt da eben: „Mein Sohn geht nicht auf den Topf. Was tun?“ Man kann viel Material in Blogs finden.

n.: Mich interessiert, wie der Prozess der Herstellung des Drehbuchs und des Films sich bei Chto delat vom Vorgehen von F.N.O. unterscheidet? Wie geht dort die Arbeit vonstatten? Schreibt Ihr alle zusammen das Drehbuch?

G.: Nein, in der Gruppe Chto delat hat jeder seine Rolle. In unserer Gruppe gefällt es uns umgekehrt, nicht zu unterscheiden, wo der eine beginnt und der andere aufhört – das ist sehr wichtig. Bei Chto delat hingegen gibt es eine sehr männliche Struktur, in der jeder seine Rolle hat. Und diese Rollen sind vergleichsweise eng. Für mich, in meinem Fall, ist es unbedingt notwendig, dass die Tätigkeit von F.N.O. weiter geht, weil es nicht gelingt, meine Themen, mit denen ich arbeiten muss, in Chto delat zu realisieren.

n.: Beim neuen Film The Tower. A Songspiel ist angegeben, dass das Drehbuch von der Gruppe Chto delat stammt…

G.: Ja, weil alle irgendwas beigetragen haben. Jeder hat seine Rolle. Die Drehbuchtexte werden aber an alle Beteiligten gepostet, und jeder kann seine Korrekturen anbringen.

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“I get up at six and read Hegel“, Laden für utopische Kleidung, Aussage von Sonja Akimova, 2007.

n.: Der Film The Tower erzählt von der Situation rund um den Bau eines gewaltigen Wolkenkratzers, des Ochta-Zentrums, im Herzen von Petersburg, in dem das Hauptquartier von Gasprom untergebracht werden sollte, dies ungeachtet der Denkmalschutzgesetze und der Proteste der Einheimischen und Aktivisten sowie der UNESCO. Auf der Webseite heißt es, das Drehbuch sei auf der Grundlage realer Dokumente entstanden. Welche waren dies?

G.: Das waren Artikel aus dem Internet, aus Zeitungsartikeln und Beiträge aus Fernsehauftritten. Das, was man im Laden, im Fernsehen, in Reden hört, was die Leute auf Messe- und Ausstellungseröffnungen zum Besten geben. Man kann die Kirche als Beispiel nehmen. Sie verschleiert die Korruption, was nicht zu übersehen ist: ihr Land- und sonstiger Besitz nimmt weiter zu. Und woher? Das heißt, dass die Kirche irgendwie mit den Herrschenden kooperiert, wie dies auch im Film gezeigt wird. Russisch ist jetzt automatisch orthodox, das aber ist eine Gefahr für die zwischenstaatliche Gemeinschaft. Es ist klar, dass die Mächtigen nun mit dem orthodoxen Glauben das riesige Land einen wollen. Aber das ist natürlich Blödsinn. Auch die Intelligencija hegt sehr viele Illusionen, was die Kirche anbelangt.

n.: Heißt das, dass solche politischen Narrative, wie in den Songspielen Partisan und The Tower eure Interpretation der Fakten sind, aber dass es für die Figuren in den Filmen immer irgendwelche realen Prototypen gibt?

G.: Es ist hier genauso wie im Falle der Drei Mütter. Es gibt sie, aber sie sind überzeichnet. Tatsächlich sagt unsere typische russische Galeristin nicht, dass der Turm ein Phallus oder ein Messer ist. Aber das ist wie bei Bergmann – eine Art innerer Wahrheit. Eigentlich hat sie schon allein vom Gedanken an die Macht einen Orgasmus. In der künstlerischen Überzeichnung zeigt sich einfach das Wesen dessen, was vor sich geht.

n.: Ich wollte noch eine Frage bezüglich der Form des Films The Tower stellen. Er orientiert sich deutlich an der Oper. Der Maßstab ist gewaltig.

G.: Ja, es ist das bisher größte und teuerste Projekt.

n.: Der Chor zerfällt dort in verschiedene soziale Gruppen, die mit bestimmten Kostümen gekennzeichnet sind. Du hast die Kostüme und das Bühnenbild entworfen?

G.: Ich habe mir diese roten Objekte ausgedacht. Das sind gleichsam Würmer, die symbolisieren, wie die Herrschenden dem Volk das Blut aussaugen. Da gibt es diese seltsamen Röhren zwischen den Herrschenden und dem Volk. Anfangs sind sie ganz klein und dann werden sie ganz groß.

n.: Und das Kunstobjekt, das der Künstler den Herrschern vom Turm anbietet – hast Du Dir das auch ausgedacht?

G.: Das war eine kollektive Schöpfung. Realisiert hat sie Alena. Zuerst war es ein Feuerzeug, dann eine Rakete. Das spielt freilich auf Anatolij Osmolovskij an. Unter allem gibt es eine Schicht Realität. Zum Beispiel, als der Künstler sagt „Einheit im Schweigen“, dann weist er auf eine Ausstellung Einheit im Schweigen hin, die es wirklich gab. Sie war riesig und fand in der ehemaligen Fabrik „Rote Fahne“ statt. Sie hatte den Anspruch einer Kunsterneuerung. Uns alle hat dieser komische Name empört. Warum denn Schweigen, warum ist hier Schweigen, wenn man herausplärren müsste, was vor sich geht, statt zu schweigen?

n.: Auch die Musik im Film ist gewaltig. Sie hat fast Opernformat. Die Kamera ist sehr professionell, fast wie in einem Blockbuster. In welchem Verhältnis steht diese effektvolle Technik zu der gesellschaftlichen Analyse?

G.: Du fragst, wie Hightech und Idee sich miteinander verbinden? Mir scheint, wenn wir schon so ein Laientheater veranstalten, dann muss die Technik super sein. Sonst wäre das Pfusch, verstehst Du? Alles ist sehr stilisiert, fast eine kindliche Inszenierung, und wenn es dann auch noch eine schlechte Kamera gäbe… Das ist wie mit Kleidung. Wenn du eine bunt gemusterte Jeans an hast, und trägst dazu ein bunt gemustertes Hemd – das ist schlechter Geschmack. Du musst dann ein weißes Hemd anziehen oder ein schwarzes, dann schaut es super aus. Es handelt dabei aber um brechtianisches Theater. Die Theater-Tradition Brechts. Songspiel – das kommt von Brecht.

n.: „Verfremdung?“

G.: Ja, eben diese absichtliche Theatralik. Es wird gleichsam ein Kindertheater aufgeführt. Ja, Dekoration, ein Dreh im Studio, ohne den Anspruch auf eine Illusion von Wirklichkeit. Es ist dies eine sehr stilisierte Sprache. Im Unterschied zu den Müttern, wo wir eine metaphysische Atmosphäre geschaffen haben und wo die Figuren sich an einem unbestimmten Ort befinden, inmitten der Dunkelheit, existieren die Figuren bei Chto delat an einem konkreten Ort. Sie sind in der Situation eines Experiments, in einem Studio, und dies wird auch nicht verborgen. Hier verbinden sich die realistische Glaubwürdigkeit und die Stilisiertheit der brechtianischen Herangehensweise.

n.: Verstehe. Letzte Frage. Welche Pläne hat F.N.O.? Wo kann man Euch antreffen?

G.: Jetzt stellen wir in Turku in Finnland die Mütter aus, Dann werden wir in Perm unsere Sprechenden Kleider zeigen. Danach werden wir zusammen mit Chto delat an einer Ausstellung und einem Seminar am Londoner Institute of Contemporary Art arbeiten. Anschließend bereiten wir ein Projekt mit einem holländischen Institut vor. Wir haben große Erwartungen. Wir wollen eine große Forschungsarbeit leisten. Auf die Baustelle gehen. Mit Immigranten arbeiten. Wir wollen, dass die Balletttänzerinnen tatsächlich auf die Baustelle gehen und eine Aufführung für die Arbeiter machen. Wozu all diese fruchtlosen Debatten über die Kunst und das Volk? Man muss hingehen und bei ihnen Theater machen. Einfach so kommen sie und werden sie auch nie zu uns kommen. Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, dann muss eben der Prophet zum Berg gehen. Und dann werden wir die Arbeiter in die Vaganova-Akademie einladen. Dann werden die Balletttänzerinnen, zum Beispiel, das Mauern lernen, wie Peter der Große das Bauen bei den holländischen Zimmermännern gelernt hat [lacht].

n.: Ich wünsche euch dabei viel Erfolg!

Das Interview führte Matthias Meindl (Dank geht an den DAAD für die Ermöglichung des Interviews).

Inspired by Natalie Pershina | Copyright © 2018